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Landwirtschaft braucht neuen Gesellschaftsvertrag - Mannheimer Morgen

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Hockenheim.„Die Stimmung in der deutschen Landwirtschaft ist schlecht. Zu den eigenen Problemen, die die Landwirtschaft bedrücken, kommt mit der gesteigerten öffentlichen Aufmerksamkeit in Klima-, Natur- und Tierschutzfragen ein starker Druck von außen hinzu. So finden sich die Landwirte von großen Teilen der Gesellschaft in ihren Sorgen nicht richtig wahr und ernst genommen, vor allem in ihren wirtschaftlichen Zwängen un- und missverstanden. Dass sie sich als Unternehmer wirtschaftlich verhalten müssen, wird in ihren Augen immer wieder verdrängt. Dabei ist fast allen klar, dass Veränderungen in der Tierhaltung und im Pflanzenbau angesichts von Klimawandel und Artenschutz, Nitratbelastung und Resistenzen auf dem Acker und im Stall notwendig sind“, schreibt Helmut Kief an die Redaktion. Man fühle sich dem Ansturm der Kritik kaum gewachsen – zumal die Bauernverbände ebenso wie die Fachpresse viel zu spät offensiv und konstruktiv reagieren würden und einen notwendigen Dialog eingeleitet hätten.

Der Forderung, dass sich in der Landwirtschaft alles ändern müsse, stehe eine Realität des Status quo beim Verbraucherverhalten gegenüber. „Die Landwirte wissen, dass sich die theoretische Bereitschaft der Konsumenten, für Klima, natur- und tierschutzgerechte Lebensmittel eine entsprechenden Preis zahlen wollen, aber nicht in deren alltäglichem Kaufverhalten niederschlägt“, so Kief. Offenbar bestünde eine große Kluft zwischen der Eigen- und Fremdwahrnehmung. Das gelte besonders im Hinblick auf die Erbringung von Umweltleistungen. Viele Landwirte engagieren sich weit mehr als sie müssten – so etwa im Bereich des Artenschutzes, wenn freiwillig und auf eigene Kosten Blühstreifen angelegt würden. Nicht nur, dass sich die Landwirte einem im Tempo und Ausmaß fordernden Anpassungsdruck ausgesetzt sehen, der vielen existenzgefährdend erscheine – „auch die Schärfe und die Anfeindungen in der öffentlichen Debatte bleiben nicht ohne Wirkung“.

So hat es der Regionalbeauftragte der Evangelistischen Landeskirche Nordbaden Rolf Braun in einer Veröffentlichung als „Agrarschizophrenie“ formuliert, auch wenn das Image der Landwirte laut Umfragen weiterhin gut bis sehr gut sei, finden zunehmend aggressive Anfeindungen, und zwar nicht allein in den Medien statt. Es gebe Stalleinbrüche sowie erste auch handgreifliche Konflikte zwischen Gülle oder Pflanzenschutz ausbringenden Landwirten und Spaziergängern. Es schmerze die Landwirte in der Seele, wenn sie in der öffentlichen Meinung seit Jahrzehnten laut Umfrage immer ganz vorne stehen, in der Stadt jedoch „der Depp“ seien. Diese Agrarschizophrenie ist eine große Belastung für den Berufsstand der Landwirte.

Keine tägliche Begegnung mehr

Die Landwirte wurden beginnend in den 1960er Jahren mit ihren Betrieben aus den Dörfern heraus neu angesiedelt, damit sie sich optimal entwickeln können. Diese Neuansiedlung – so sinnvoll sie aus praktischen Gesichtspunkten gewesen ist – habe die Landwirtschaft auch aus den Herzen, Hirnen und Geldbeutel der Menschen ausgesiedelt. Landwirtschaft wurde nicht mehr unmittelbar erlebt, es gab keine tägliche Begegnung mehr. Aus dem Auge, aus dem Sinn! Umso wichtiger wäre eine ortsverbundene Öffentlichkeitsarbeit, die die Landwirte aufgrund der Arbeitsbelastung jedoch an Dritte, etwa an den Bauernverband, delegiert haben, so Kief. Auch dies habe den Prozess des Nichtverstandendseins verschärft.

„Ein im Vergleich zu anderen Branchen hoher Kapitalbesatz pro Arbeitsplatz, ohne entsprechende Rendite, eine in vielen Betrieben ungeregelte Hofnachfolge, eine unsichere Zukunft mit Blick auf die Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik, stark schwankende Preise, und damit einhergehende Planungsunsicherheit sowie ein enorm gestiegener Dokumentationsaufwand durch eine ausufernde Bürokratie tragen ebenfalls erheblich zur Verschlechterung der Stimmung bei.“

Was ist zu tun? „Auf jeden Fall sollten wir aus dem Scheitern der tiefen Eingriffe in den Markt gelernt haben, dass der Staat auf Dauer nicht gegen den Markt arbeiten kann, etwa durch eine schnelle Ausdehnung des Ökolandbaus, durch die die Preise kollabieren, die jedoch die Wirtschaftlichkeit gerade der Betriebe gefährden, die schon lange Ökobauern sind“, schreibt Kief. Nur gemeinsam mit den Landwirten könne den Zukunftsherausforderungen begegnet werden. Es werde daher nicht ohne einen neuen „Gesellschaftsvertrag für die Landwirtschaft“ gehen. Der Staat müsse seine Handlungsfähigkeit in diesem Politikbereich zurückgewinnen – sonst ist Politik das, was die Wirtschaft übrig lässt. „Bei den Tierwohl-Labels machen die großen Lebensmitteldiscounter längst, was sie wollen. Zur Lösung all dieser Problematiken brauchen wir schnell umsetzbare Maßnahmen, ohne jedoch den Druck den Bauern aufzubürden. Der wissenschaftliche Beirat beim Landwirtschaftsministerium schätzt, dass allein der Umbau der Tierhaltung pro Jahr etwa fünf Milliarden Euro kostet“, schreibt Kief.

Es müsse also ein „Ruck durch Deutschland“ gehen, wenn sich künftig etwas ändern soll. Es mache keinen Sinn, nach Schuldigen zu suchen. „Wir müssen die Ursachen und Hintergründe benennen, um eine tragfähige Lösung zu finden.“ Das gehe nur, „wenn wir uns nicht unseren persönlichen Stimmungen ergeben“. Wem es mies geht, sei kein guter Partner auf Augenhöhe, um die Zukunft gemeinsam zu gestalten. „Wir sollten jetzt gemeinsam handeln, offen und sachlich miteinander reden und innerhalb der Wertschöpfungskette die Kosten fair verteilen“, so Kief abschließend. hk/zg

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July 16, 2020 at 05:00AM
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